Es gibt Maßstäbe für scheinbar maßlose Übertreibung: Wenn die
Rolling Stones Brücken nach Babylon bauen, ist dies ein Spiegel
von 40 Jahren gesellschaftlicher Entwicklung. Vor allem
jedoch die wahrscheinlich beste Rockkonzertproduktion
überhaupt.
IMST. Manche Damen tragen Pumps. Nicht nur auf der VIP-Tribüne. Auch in der Arena des gemeinen
Konzert-Volks. Vielleicht sinniert Mick Jagger deshalb über "Some Girls", nachdem er
eingangs beteuert hat: "You'll Never Make A Saint Of Me". Woran neben Jerry Hall auch die
45.000 am Montag im Imster Matsch ohnehin nie zweifeln würden. Trotz seines herzerweichenden
"Ruby Tuesday" - dem Song zuvor.
Geschickte Wahl des Song-Repertoires
Bei diesen Stücken 7, 8 und 9 des seit 21.57 Uhr laufenden Auftritts ist längst klar: Es hat sich gelohnt.
Trotz allem. Regen, Verkehr und diverses Chaos werden nebensächlich in 125 Minuten bestem Stones-
Konzert. Immerhin schmachtet Chordame Lisa Fisher das geilste "Uhuhuh" (sorry, Jerry ...) seit
Entstehung von "Gimme Shelter". Außerdem kann etwas, das mit "Jumpin' Jack Flash" beginnt und "Sympathy For The
Devil'endet, gar nicht wirklich schlecht sein.
Überdies wollten wir "Route 66", "Get Off My Cloud" und "Midnight Rambler" immer schon
aus einer Minibühne mitten im Publikun hören.
Und überhaupt: "Bitch", "Paint It Black", "Brown Sugar", "Tumbling Dice", "Respectable" und "It's Only Rock 'n' Roll"
sind handverlesene Perlen aus dem Oeuvre der Glimmer Twins,wie Mick Jagger und Richards sich mitunter einst nannten.
Eine perfekte Wahl für die letzten Stones-Shows dieses Jahrtausends. "The Last Time" fehlt diesmal. Ein Fingerzeig?
Überwiegend Material aus den ersten Dekaden
Mehr als zwei Drittel der 21 Konzerttitel stammen aus den 60er und 70er Jahren. Wohl fast zwei
Drittel des Publikums erlebten damals ihre Jugend. Und während mitgenommene
Kinder "Start Me Up" als Klassiker bejubeln, gilt routinierten Eltern diese 81er Nummer geradezu
als neu. Nicht nur, weil sie mittlerweile von Europas Sozialdemokraten als Wahlhilfe-Soundtrack
bemüht wird.Lediglich "You Got Me Rockin'", "Saint Of Me" und "Out Of Control" sind
eine Reminiszenz ans Jetzt - Stones-Stücke aus diesem Jahrzehnt. Und bevor die Bridges To
Babylon (CD-Titel und Tournee-Motto) auch technisch geschlagen werden, darf Keith
Richards ohne sein aller Ego "All About You" und "Before They Make Me Run" singen. Gut so. Denn
er ist noch mehr Stein als der vermeintliche Stein >schlechthin. Der Wechsel von der riesenhaften
Hauptbühne auf ein kleines Tableau inmitten des Publikums ist der Show-
Höhepunkt des Abends. Während die Stars über >einen schmalen Korridor zu diesem Nebenschau
platz hetzen- werden sie allerdings (fast) Opfer zahlreicher Bierwurfattacken. Was viel über einen nicht unbeträchtlichen
Teil des Publikums aussagt. Wie schon so oft in Imst war seine Qualität jener des gebotenen Programms nicht gewachsen.
Aufwandssuperlative für eine Band in Hochform
Bridges To Babylon mag bei oberflächlicher Betrachtung lediglich als Hühepunkt einer einfallslos in Gigantomanie
endenden Popkultur erscheinen, Es ist jedoch die ultimative Rockshow unserer Tage. Denn die Aufwandssuperlalive finden Ihre
Entsprechung in einer Band, die viel mehr bietet als die Vermarktung ihrer Vergangenheit.
Dahei ist es unerheblich, wieviel vom Live-Sound wirklich aus den Kehlen und Instrumenten des Quartetts stammt. Als Jetsetter
Mick sich nach "Servus Tirol" mit "Ich möchte die Band vorstellen"
ein zweites Mal deutschsprachig erprobt, dauert die Aufzählung sehr
lange. Und auch die Live-Übertragung mit perfektem Bildschnitt auf eine riesige ovale Videowand trägt neben dem nahezu
allerorts perfekten Klangbild viel zum Konzerterfolg bei.
Doch Löwe Jagger, Schütze Richards sowie die Geburtstag feiernden Zwillinge Ron Wood (l. 6.) und Charlie Walls (2. 6.) sind
vor allem die glaubwürdigste Verkörperung heimlicher (?) Träume von zumindest zwei Generationen - mit all ihren Wider-
sprüchen. Von Personal Trainern athletisch gestählt, geben sie das Stück von den hoffnungslos kaputten Typen. In exakte Rollenverteilung
choreogaphiert, wirkt ewig improvisiert ihr Duospiel vom nervösen Zappelphilipp und coolen
Dunkelmann. Cool als wären sie Erfinder dieses Modewortes, bearbeiten sie ihre Rockgeschichte
im konzertanten Fittnesstudio.
Wenn das Establishment Aufbegehren spielt
Die Rolling Stones sind der langlebigste Trumpf gegenüber all den künstlichen Lichtgestalten
der Glitzerwelt. Sie sind Establishment und spielen Aufbegehren. Sie leben angenehm gefangen in
ihrem Erfolg und gaukeln den Traum von der großen Freiheit vor. Sie sind alt und spielen
Jugend. Wie ihr Publikum. Sie werden anders alt als andere alt wurden. Wie ihr Publikum?
Endstation Sehnsucht.